ilman Grammes wurde im Mai in den Vorstand des Vereins LEHRKUNST.ch gewÀhlt, Wir haben ihn im Rahmen unserer Serie "Nachgefragt" zu seinem VerstÀndnis der Lehrkunstdidaktik interviewt und er hat uns Antworten geliefert zur Lehrkunst, zur Didaktikforschung und zu den Fragen von Heranwachsenden.
Die Fragen stellte Mario Gerwig.Â
Wenn du nach einer Beziehung fragst, dann muss ich mit meiner Schulzeit beginnen. Eigentlich wollte ich Stadtplaner werden. In der Oberstufe konnten wir Kurse semesterweise wĂ€hlen. Unser Lehrer im Leistungskurs Deutsch (1973) war ein bekannter Schriftsteller und Feuilletonredakteur. Die Grundfigur des Kurses war: Dramen, die auf dem Spielplan der umliegenden SchauspielbĂŒhnen â Wiesbaden, Mainz, Darmstadt, Frankfurt â standen, wurden im Unterricht erarbeitet. Parallel dazu besuchten wir â mit ordentlich Freikarten versorgt â Premieren. In Erinnerung geblieben sind mir Amphitryon â die Fassungen von MoliĂšre und Kleist standen auf dem Spielplan, wir konnten vergleichen und die unzĂ€hligen Variationen, wie man ein âAch!â auf der BĂŒhne artikulieren kann, diskutieren. Die knisternde Spannung am Premierenabend war greifbar. Live und im Wettlauf mit den berufsmĂ€ssigen Theaterkritikern haben wir noch am nĂ€chsten Morgen Rezensionen entworfen. (In den Klausuren durften diese Entwurfsfassungen ĂŒbrigens auf dem Tisch liegen, um daraus eine redigierte Endfassung zu erstellen. So kann man als SchĂŒler schreiben lernen!) Dieser Kurs hat unser GefĂŒhl fĂŒr Auftritte, Timing, innere Stimmigkeit und SinnbezĂŒge, also fĂŒr Dramaturgie und das Aktual-Genetische ungemein geschult. Ich immatrikulierte mich zum Wintersemester 1975/76 fĂŒr das Fach Theaterwissenschaften an der Freien UniversitĂ€t Berlin. Im Nebenfach Germanistik machte ein literaturwissenschaftlich, literaturdidaktisches und schulpĂ€dagogisches Hauptseminar Berg/Eggert/Rutschky neugierig, das ich zwar noch nicht besuchen konnte, dessen Zugriff auf Lehrerbildung aber als interessant im GedĂ€chtnis haften blieb. Von Anfang an hat mich das dramaturgische Denken, Unterricht als BĂŒhne, fasziniert. (1)
Jahre spĂ€ter begegnete mir der Aufsatz "Schöpferisch lehren lernen" (1990 in der Neuen Sammlung), in dem Christoph Berg u.a. erzĂ€hlt, wie er Abschlussarbeiten an interessierte Lehramtsstudierende vergibt. Angesprochen hat mich das Motiv der Entschleunigung, der Stellenwert von Konzentration, Sorgfalt und Ăbung als Basis von Innovation. In den letzten Jahren kann ich das Bergâsche Regalsystem auch erleben: Mein Essener Kollege Thomas Retzmann und ich haben zusammen mit LehrkrĂ€ften 15 Unterrichtsmodelle zur Wirtschafts- und Sozialethik entwickelt und dafĂŒr 2012 den Max-Weber-Preis fĂŒr Wirtschaftsethik in der Kategorie Lehrbuch/Schulbuch erhalten. Ein Zufallstreffer eigentlich â durch  Mundpropaganda wahrscheinlich kommen seitdem immer wieder Studierende, die in einem revolvierenden System diese Modelle aufgreifen und weiterentwickeln. Aber es sind eben Unterrichtsmodelle, keine LehrstĂŒcke.
Im Rahmen des Hamburger Graduiertenkollegs Bildungsgangdidaktik und inspiriert durch ein Interview mit Wolfgang Hilligen, (2) dem Altmeister der politischen Bildung, entstand âWir grĂŒnden eine Dorfgemeinschaftâ (Andreas Petrik (3)). Das Dorf Marigniac ist ein soziales Laboratorium, in dem existentielle Grundfragen in immer neuen Varianten erlebt und reflektiert werden können. Petriks Dörfer sind inzwischen in vielen Inszenierungsvarianten an zahlreichen Schulen âausgewildertâ, auch in anderen BundeslĂ€ndern. Die GegenstĂ€nde meiner UnterrichtsfĂ€cher â Sprache, Literatur, Politik â haben vielleicht eine besondere AffinitĂ€t zum Aktualgenetischen, denn es gibt sie ja nicht, sondern sie existieren als soziale Tatsache erst in dem Moment, wo sie sich als soziale Kommunikation ereignen. Dieses Heureka gilt es im Unterricht durch das doppelte Fallprinzip, das Aktualgenese und KulturauthentizitĂ€t verknĂŒpft, zu inszenieren. Horst Leps hat das in seinem LehrstĂŒck "Auf der Suche nach der besten Verfassung" vorgefĂŒhrt (vgl. die Literaturangaben unten). Diese beiden LehrstĂŒcke bilden â frei nach Lessing â im Moment den Kern unserer Hamburgischen Dramaturgie.
Drei Punkte sind mir wichtig. Vor allem sollten wir immer wieder die Weisheit kollegialer Praxis befragen: Wo sind die mehrfach erprobten Unterrichtsbeispiele an Schulen, die bereits eine NĂ€he zu den didaktischen Prinzipien der Lehrkunst aufweisen? Lasst uns einmal Promotionen angehen, in denen das Expertenwissen von LehrkrĂ€ften zu Themen des Kerncurriculums wie Verfassung, Marktwirtschaft oder Rechtsprechung ĂŒberhaupt erst einmal systematisch erfragt wird. Ich bin zuversichtlich, dass da SchĂ€tze zu heben sein werden, von denen wir im kollegialen Austausch ĂŒberhaupt erst einmal wissen mĂŒssten. Diese Expertise gilt es parallel mit historischer Didaktikforschung zusammenzufĂŒhren, den guten Beispielen in der Inszenierungstradition und Stoffgeschichte. Themenbezogene Sammlungen von Unterrichtsberichten und -reportagen könnten auch auf der Homepage des Vereins gesammelt werden. Vielleicht zĂŒndet der Funke bei dem ein oder anderen, sich auf den Weg zu einer LehrstĂŒckweiterentwicklung zu begeben.
Zweitens wollen wir von Hamburg aus Impulse setzen, das Spektrum der LehrstĂŒcke, die sich ganz unmittelbar auf die soziale Welt beziehen, zu erweitern. Auf ihrem âWeg ins Lebenâ (Anton S. Makarenko) stellen sich Kindern und Jugendlichen elementare Fragen: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Wie können die so unterschiedlichen Menschen lernen, in der einen Weltgesellschaft friedlich zusammenzuleben? Dass ein friedliches Miteinander im Alltag, in unserer Berufsarbeit und in der Ăffentlichkeit der grossen Politik gelingen könnte, ist leider der eher unwahrscheinliche Fall, wenn man sich historisch und aktuell in der Welt umsieht. Insofern sind gelebte Demokratie, Pluralismus und Toleranz immer wieder eine kontra-faktische Ăberraschung! Das Abenteuer Demokratie enthĂ€lt staunproduktive Momente: den parlamentarischen Willensbildungsprozess, den Preisbildungsmechanismus auf globalen MĂ€rkten, das Ausbalancieren und Schlichten von Konflikten im Rechtssystem. Unter dem Dachkonzept Demokratie sammeln sich herausfordernde Konzepte wie Frieden, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Zukunft ... Wir haben dazu 2004 ein Findbuch angelegt, das noch viele SchĂ€tze enthĂ€lt, um demokratiepĂ€dagogisch orientierte LehrstĂŒcke zu entwickeln. (4)
Drittens, verstehe ich mich als Botschafter und Netzwerker der Lehrkunstdidaktik, um die Idee und Praxis nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch international anschlussfÀhig zu machen.
Mein erster Eindruck in Japan 2003 war eindrĂŒcklich: Kollegen aus den umliegenden Schulen strömen in ein grosses Zelt, das auf dem Schulhof aufgebaut ist, um sich an eine schulöffentliche Lesson-Studies-Weiterbildung anzumelden. Die gemeinsamen Hospitationen in anspruchsvollem Unterricht, emsiges Mitschreiben, Filmen, Vergleichen. Und dann ein ganzer Nachmittag in kollegialer Runde mit intensiver Befragung und Analyse der Lernprozesse einzelner SchĂŒlerinnen und SchĂŒler. Und immer, wenn eine Interpretation ungerecht zu werden droht, der freundliche Hinweis âDas sollten wir uns jetzt vielleicht nochmal in der Videoaufzeichnung anschauen ...â Es geht um Verstehen und Optimieren, nicht um Bewerten.
Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit dem lehrkunstdidaktischen Ansatz (vgl. Literaturhinweis in der Randspalte). Als Hiro Kuno von der UniversitĂ€t Nagoya die Möglichkeiten sondiert hat, die jĂ€hrliche internationale Tagung der "World Association of Lesson Studies"  2019 erstmals in Deutschland auszurichten, schien der Eindruck, dass die deutsch-schweizerische Unterrichtskultur noch nicht affin genug mit diesem Ansatz ist. Einige mathematische LehrstĂŒcke weisen vielleicht am ehesten schon in diese Richtung.
"Lesson Studies" akzentuiert im Unterschied zur Lehrkunst stĂ€rker die elementaren Bauformen und Unterrichtsmodelle. FĂŒr mich ist es eine offene Frage, inwieweit ein begrenztes Repertoire an Unterrichtsmodellen unterhalb der Ebene des LehrstĂŒcks das Lehrkunstrepertoire ergĂ€nzen sollte. LeuchttĂŒrme brauchen ein breites, gut gegrĂŒndetes Fundament, also eine Sammlung von EtĂŒden. Die minimalistischen Modelle von Bertolt Brecht kann ich mir als Impulsgeber in diese Richtung stĂ€rker ausgearbeitet vorstellen. Das Zeitungs-LehrstĂŒck "UAZ" (Literaturangabe unten) mit seinen wunderbar berichteten Variationen wĂ€re bereits solch ein Prototyp. Auch vieles aus der Berner Werkstatt, etwa zum SchlĂŒsselproblem Nachhaltigkeit, Allmende und Globalisierung am Beispiel âWaldnutzungâ.
Da die Haltung von Elisabeth Frenzel zu ihrer Biografie bekanntlich problematisch geblieben ist, könnten wir vielleicht alternativ vom âKindlernâ (5) sprechen, wenn eine Werkgeschichte auch nicht dasselbe wie eine Stoffgeschichte ist. Gerade am Beginn der Lehrerausbildung ist es schwierig, die manchmal ĂŒberbordende Freude am âMethodenwechselâ und an kreativen Ideen fĂŒr das Unterrichtspraktikum zu fokussieren, damit daraus nicht didaktische WillkĂŒr und Beliebigkeit als dauerhafte Haltung hervorgehen. Meinen Studierenden hilft meist die Guido-Baumann-Frage (der Schweizer Ratefuchs) beim Prominenten-Raten: âSind Sie produzierender KĂŒnstler?â âNein.â âDann sind sie reproduzierender KĂŒnstler!â PĂ€dagogen sind Regisseure, nur gelegentlich Autorinnen.
Die Frage der Empirie fĂŒhrt mich noch einmal zurĂŒck zu den "Lesson Studies". Hiro Kuno hat den Bildungsgang der SchĂŒlerin Yumiko durch ein ganzes Unterrichtsvorhaben nachgezeichnet. (6) Leser können mitleben, wie eine zwölfjĂ€hrige SchĂŒlerin mit der konfliktreichen Entscheidung um eine FussgĂ€ngerbrĂŒcke fĂŒr einen sichereren Schulweg ringt. Durch das LehrstĂŒck "DorfgrĂŒndung" hat Andreas Petrik ganz Ă€hnlich Prozesse und Niveaus der Argumentation einzelner SchĂŒler mit den empirischen Methoden der Bildungsgangdidaktik untersucht. (7) Lesson Studies sind âLearning Studiesâ, die die Aufmerksamkeit auf die Denkbewegungen der SchĂŒler und auf transformatorische Bildungsereignisse richten. Solch eine inwendige pĂ€dagogische Lerntheorie, Theodor Schulze hat das immer wieder betont, unterscheidet sich von den psychologischen und soziologischen Forschungszugriffen, die eher funktional und von aussen âWirkungenâ messen wollen. Es komme nicht darauf an, auswendig zu dirigieren, sondern inwendig, soll der Fanatiker der Werktreue, Otto Klemperer, einmal gesagt haben.
In zehn Jahren wird die kurzfristige Mode, die sich âKompetenzorientierungâ nannte, als Fussnote der Didaktikgeschichte bereits wieder vergessen sein, sie war ohnehin in weiten Teilen nicht neu und konnte die öffentlichen Erwartungen nicht einlösen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis am EpochenĂŒbergang von der Gutenberg-Galaxis zur digitalen Welt Fragen nach dem kulturell gemeinsam geteilten Wissen (shared knowledge) wieder ins Zentrum einer öffentlichen Debatte rĂŒckten. In einer liberalen Gesellschaft kann die Frage nach dem Kerncurriculum nicht digitalen Algorithmen oder Echokammern ĂŒberlassen bleiben. Eine Renaissance der Curriculumdiskussion hat stattgefunden.
Was Forschungsformate betrifft, muss sich Lehrkunstdidaktik wahrlich nicht verstecken. Ist sie doch von Beginn an eine praxisforschende Bewegung gewesen und ohne das systematische Marburger Promotionsprogramm gar nicht vorstellbar! Statt dem Trend hinterherzulaufen, Forschung auf empirische Bildungsforschung zu reduzieren, wurden Lehrkunst-affine Richtungen gepflegt: Theorieforschung (phÀnomenologische AnsÀtze, Bildungsgangforschung), bildungshistorische Forschung (Stoffgeschichte) und vergleichende Forschung, die Dokumentation und Archiv (Unterrichtsberichte!) als unverzichtbare Forschungsaufgaben und nicht nur wissenschaftliche Dienstleistungen einschliesst.
In zehn Jahren kann man interessierten Kolleginnen und Kollegen, die ihr Weiterbildungsdeputat in LehrkunstwerkstĂ€tten einbringen möchten, eine ganze Serie von inspirierenden Fotostrecken (Michael JĂ€nichen im Lehrmodell Zeitung!) und Unterrichtsfilmen vorzeigen. Ein virtuelles Museum der LehrstĂŒcke ist auf der Webseite des Vereins weiter im Aufwuchs. Die âSummer Schoolâ ist als Format fest etabliert, es gibt den jĂ€hrlichen Preis fĂŒr lebendige LehrkunstwerkstĂ€tten und das beste Seminar zur Allgemeinen Didaktik. An einigen Modellschulen wurden sogar Funktionsstellen fĂŒr Allgemeine Didaktik in den Leitungsteams eingerichtet, wie sie Christoph Berg angeregt hat. Als Kuratoren pflegen sie den lebendigen Austausch mit kulturwissenschaftlich orientierten Fachdidaktiken und der Lehrerbildung in allen Phasen.